„Geh weg, Du Bastard“ – Jimmy Hartwig erzählt Thomas Thieme im Weimarer „Elephant“ sein abgründiges Leben

Geschrieben am 5. April 2015 von Paul-Josef Raue in Bühne.

Thomas Thieme, Weimars großer bissiger Schauspieler, setzt Jimmy Hartwig, den Ex-Fußball-Nationalspieler, auf die rote Couch und lässt ihn sein wildes Leben erzählen. Thieme mit weißem Hemd, das über die Hose schwappt, spielt Dr. Freud, ein Nachfahre des Wiener Seelendoktors, und Hartwig spielt Hartwig in knielanger Lederhose, wie sie die Spieler von Bayern München auf ihren obligatorischen Meisterfeiern tragen.

Thieme und Hartwig trafen sich am Samstag vor Ostern zum Zweikampf um Hartwigs Seele im Wagner-Saal des Weimarer Hotel Elephant. Dessen Direktor Kay-Oliver Heller durfte eingangs sogar mitspielen, war Freuds Assistent, der zuerst die Musik ausschalten musste, das „Schlager-Zeug“, dann das Licht.

„Sprechen Sie in einfachen Sätzen!“, blafft Freud seinen Patienten an, für den die rote Couch zu klein ist: Die Beine hängen über der Lehne. „Sprechen Sie mal einen vor!“, antwortet Hartwig, der Jimmy. Freud muss passen, Hartwig ist schlagfertiger – kein Wunder, denn es ist sein Leben, das er erzählt, kein inszeniertes, geschöntes, fürs Publikum aufbereitetes.

Es ist ein deutsches Leben, in dem sich unsere Geschichte ebenso spiegelt wie unsere Vorurteile und Abneigungen. Dr. Freud seziert weniger Hartwigs Seele als die deutsche, deren Abgründe in einem Menschenleben zu besichtigen sind:

Jimmy Hartwig ist kein weißer Deutscher, ist ein Nachkriegskind, gezeugt aus der kurzen Liaison einer Offenbacherin mit einem GI, einem farbigen US-Soldaten; der kehrt in die Staaten zurück, als Jimmy zwei Jahre jung ist; nur einmal noch begegnet Jimmy ihm: Als er vier Jahre ist, schenkt sein Vater ihm einen Fotoapparat und verschwindet aus seinem Leben.

Hartwigs Hautfarbe stört viele Menschen, denen er in seinem Leben begegnet und die es ihn spüren lassen. Der erste, den Jimmys Farbe stört, ist sein Opa, ein alter Nazi, der ihm jeden Morgen eine „Pflicht-Ohrfeige“ verpasst: „Geh weg, Du Bastard!“

Jimmy wächst in Offenbach auf, einer Arbeiterstadt, direkt neben der Banken-Metropole Frankfurt gelegen. Seine Heimat ist das Armenviertel, das Dr. Freud thüringisch „Blechbüchsen-Viertel“ nennt. Aus dem Viertel will Jimmy raus. Aber sie lassen ihn nicht.

Der Lehrer in der Volksschule erklärt seiner Mutter: Der Junge ist dumm. Die Mutter nickt und lässt zu, dass er auf die Pestalozzischule kommt, eine Sonderschule. Dort findet er zum ersten Mal einen guten Menschen: Ein Lehrer entdeckt seine wahren Talente und schickt ihn auf die Realschule.

Doch sein eigentliches Leben beginnt für Jimmy auf dem Fußballplatz: Erst wollen sie ihn nicht mitspielen lassen, dann fehlt einer und die Karriere nimmt ihren Lauf – allerdings fast durchweg ohne das, was Jimmy „soziale Anerkennung“ nennt. Die muss er sich selber schenken: Zur Belohung für ein gutes Spiel kauft sich der Junge eine „Zehnerbrause“, einen Zitronensprudel für zehn Pfennige.

Jimmy stolpert durch eine Fußball-Karriere, mal Star, mal Verlierer – erst in Offenbach, gleich nebenan auf dem legendären Biberer Berg, dann in Osnabrück, wo ihn seine Mitspieler mobben, und in München, wo Max Merkel ihn vorführt und die Bildzeitung ihm so zusetzt, dass seine Frau sich schämt, noch beim Metzger einkaufen zu gehen.

Beim Hamburger SV spielt sich Jimmy Hartwig in die Herzen der Zuschauer, wird drei Mal Deutscher Meister, zweifacher Nationalspieler, verdient anderthalb Millionen Mark im Jahr – und vertraut Menschen, die sein ganzes Geld verspekulieren.

Beim 1. FC Köln beginnt der Abstieg: Austria Salzburg, FC Homburg, Trainer bei Sachsen Leipzig und SV Soltau folgen. Als er unten aufgeschlagen war, kam erst der Koks, das Rauschgift, dann dreimal der Krebs. Mehr geht eigentlich nicht.

Thomas Thieme rettet ihn und entdeckt sein Schauspiel-Talent: Hartwig spielt den Kaufmann Mäch in Thiemes Inszenierung von Brechts Baal am Nationaltheater in Weimar: in Leipzig spielt er den Woyzeck in Büchners Drama.

Seit zwei Jahren ist Hartwig Integrationsbeauftragter des DFK und spricht in Flüchtlingsheimen und Schulen. Über seinen Auftritt im „Dschungelcamp“ sprach er im Elephanten nicht, und Dr. Freud fragte nicht. Es reichte eben.

Freud und Hartwig führten einen Oster-Spaziergang durch die deutsche Seele, auch durchaus vergnüglich entlang der Abgründe. Zu aller Überraschung spielt Hartwig den Thieme an die Wand, was selten genug geschehen dürfte; oder, um es charmanter zu sagen: Thieme lässt Hartwig, seinem Freund, den Vortritt. Das Stück ist auch auf Hartwig zugeschnitten, und so wäre zu überlegen, ob die Form überhaupt stimmt: Ein Leben auf der Couch.

Für Jimmy Hartwigs Leben braucht man keinen Psychologen – der Freud wirkt aufgesetzt -, ein Gespräch unter Freunden könnte sogar ergiebiger sein. Denn Thieme ist immer schlagfertig und echt, wahrscheinlich auch ohne Freud im Kopf.

Diskutieren Sie mit uns den Artikel "„Geh weg, Du Bastard“ – Jimmy Hartwig erzählt Thomas Thieme im Weimarer „Elephant“ sein abgründiges Leben"