Gewalt, Machtmissbrauch, Korruption – Ulrich Wickerts fünfter Krimi um den Pariser Richter Ricou

Geschrieben am 29. März 2014 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Krimis.

Ulrich Wickert: Das marokkanische Mädchen. Hoffmann-und-Campe, 318 Seiten, 19.99 Euro

Ein Mann will Präsident Frankreichs werden – mit allen Mitteln. Er weiß, dass er für sein größtes, sein einziges Ziel viele gute Beziehungen braucht, dass er entschlossen, gar unerbittlich sein muss und über Leichen gehen – und dass er Geld braucht, viel Geld.

Die Geschichte eines Politikers, der für die Macht alles macht, diese Geschichte erzählt Ulrich Wickert im neuen Krimi um den Untersuchungsrichter Ricou. Wie in den vier vorangegangenen Ricou-Geschichten stilisiert Wickert den Richter als einen Leuchtturm der Gerechtigkeit: Seine Feinde beförderten ihn am liebsten ins Jenseits; seine Freunde treffen ihn am liebsten im Bistro nebenan zu einem warmen Croissant und einem Café creme.

Es mag sein, dass Wickert seinen unerschrockenen Richter idealisiert, ein wenig zu sehr in einen Himmel hebt, in dem die guten Menschen ihren Rotwein trinken. Aber solche Menschen wärmen das Herz.

Als der erfahrene Kommissar, ein Freund des Richters, sieht, wie ein junger Polizist in ein Schnell-Cafés gehen will, ist er verwirrt: „Du kannst doch nicht in ein Starbucks gehen, wenn drei Meter weiter ein nettes französisches Bistro offen hat.“ Aber da könne er den Kaffee gleich mitnehmen, sagt der Polizist.

Der Kommissar hält dagegen: „Statt des Kaffeebechers sollten wir uns die Zeit für eine zivilisierte Tasse nehmen. Wir trinken im Bistro unseren Kaffee – stehend an der Theke. Wie unsere Väter und Großväter.“
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Der Kommissar und sein Freund, der Richter, leben in einer Welt, in der es in der lauten Stadt noch nette Bistros gibt und einen Gaston, der seinen Gästen jeden Wunsch abliest, in der nebenan die netten Nachbarn wohnen – und auch eine nette Frau, an die sich ein Richter nach einem schweren Tag anlehnen kann.

Dass diese nette Frau eine Reporterin ist, gar eine Reporterin für die schweren Fälle, das hilft nicht nur dem Richter bei seinen Ermittlungen, sondern auch dem Autor, um seine Erzählung im Fluss zu halten. Denn die Gegenwelt zur heilen, bald aussterbenden Bistro-Welt des Richters ist ein Moloch der Gewalt und des Machtmissbrauchs, der Korruption und Unmenschlichkeit.

Was Wickerts Krimi über die skandinavischen wie Mankells Kommissar Wallander erhebt, ist die Nähe zur Realität. Die Schurken aus der „Bling-Bling-Gesellschaft“, wie sie Wickert nennt, diese Schurken haben Namen, die wir aus der „Tagesschau“ kennen, etwa: Gaddafi, der Sarkozys Wahlkampf finanzierte; Mitterand, der Chinas Kommunisten bestach, um ein Fregatten-Geschäft mit Taiwan abzuwickeln.

Es ist ein Krimi über die große Bedrohung jeder Demokratie: Korruption. Ricous Freundin, die Reporterin, zählt die großen französischen Bestechung-Skandale auf:

„Die U-Boote für Pakistan. Die Waffenlieferungen nach Angola. Der Kauf der ostdeutschen Raffinerie Leuna durch Elf-Aquitaine.“

Die tragische Geschichte des marokkanischen Mädchens, die als einzige einen Mordanschlag überlebte, ist nur der Vordergrund eines politischen Dramas: Was ist das Leben eines Kindes gegen die Macht und die Gier eines Menschen, unbedingt Präsident zu werden?

Dabei ist Wickerts Krimi zuerst ein richtiger Krimi: Er beginnt mit einem Dreifach-Mord, führt nach Marokko und zu einem Attentat mit vielen Toten, einem Mord und einem Überlebenden, der sich später selber richtet, er führt zu einem Anschlag auf den Richter – und zu einem furiosen und spannenden Finale sowie, als Trost, in den letzten Sätzen zu einem leichten Liebes-Wirrwarr, das Wickert wahrscheinlich im nächsten Ricou-Krimi ausführlich beschreiben wird.

Der Krimi hat neben vielen Vorzügen einen weiteren: Er ist in kurze Kapitel unterteilt und eignet sich als ideale Bettlektüre – wenn da nicht die vielen Namen wären! Selten tauchen in einem 318-Seiten-Roman so viele Akteure auf, deren Namen ein des Französischen unkundiger Leser nur schwer auseinander halten kann. Dennoch: Wickert, der Ex-Tagesthemen-Moderator, ist besser als Mankell, er kann erzählen, und er kann schreiben.

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MARKIERT (Leseprobe)

Der Minister wütet

„Ich werde überhaupt nicht mit Ihnen reden. Ich habe nichts zu sagen!“, schrie der ehemalige Innenminister den Kriminalkommissar an. Und fügte grob hinzu, er könne ihn mal am Arsch lecken.

„Sie verstehen, dass ich Ihre Aussage jetzt notieren und von Zeugen bestätigen lasse“, sagte Jean Mahon. „Als Sie noch Innenminister waren, haben Sie jedem Polizisten eingebläut, er solle gegen Beleidigungen sofort vorgehen.“

Genau um sechs Uhr früh hatte Kommissar Jean Mahon in dem berühmten Mittelmeerort Fréjus an der von süß duftenden Glyzinien umrankten Haustür von Louis de Ronsards Villa geklingelt. Als sich niemand regte, klingelte er noch einmal, sogar ein drittes Mal, dann gab er den Befehl, die Tür aufzubrechen.

Im Bademantel kam Ronsard die Treppe aus der oberen Etage so schnell herunter, dass er fast stolperte. Als er die Polizisten in Uniform sah, fragte er brüllend, welcher Richter ihnen den Durchsuchungsbefehl unterschrieben hätte. Aber ohne auf eine Antwort zu warten, fügte er hinzu: „Wer immer es ist, ich scheiß auf ihn!“
Die sechs Polizisten, die Jean Mahon mitgenommen hatte, waren in die verschiedenen Ecken des Hauses ausgeschwärmt, um sicherzustellen, dass niemand im Haus versuchte, Beweismaterial zu vernichten.

Auf dem Treppenansatz erschien eine junge Frau, die nichts aussah wie Ronsards Ehefrau. Sie hielt einen zu großen Morgenmantel mit beiden Händen vor der Brust zusammen. Als sie von Ronsard wissen wollte, was denn los sei, schrie er sie an: „Geh zurück ins Bett. Die Stasi ist da“.

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„Sie sind verhaftet“, sagte der Kommissar lakonisch. „Nehmt ihn mit. Im Bademantel!“

„Und das Mädchen?“

Insgeheim fand (Kommissar) Jean Mahon die Lage amüsant, denn er wusste, was er anrichtete. Draußen stand ein Dutzend Fotografen und Kameraleute. Die Durchsuchung des Privathauses des ehemaligen Ministers, der lange Jahre auch Bürgermeister von Fréjus gewesen war, hatte sich längst rumgesprochen.
„Das Mädchen im Morgenmantel nehmt ihr auch mit.“ Er schaute einen seiner ältesten Mitarbeiter durchdringend an, ohne eine Miene zu verziehen. Der verstand den Blick. Wenn der Morgenmantel des Mädchens ein wenig verrutscht, werden sich die Fotografen freuen.

Thüringer Allgemeine 29. März 2014

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