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Allgemein :: Blog von Paul-Josef Raue
Alle Artikel der Rubrik "Allgemein"

Gadamer: Fortschritt der Technik

0 Kommentare / Geschrieben am 25. Mai 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Philosophie, Zitate.

Der Fortschritt der Technik trifft auf eine unvorbereitete Menschheit.

Hans-Georg Gadamer im Sammelband „Verborgenheit der Gesundheit“ (zitiert nach FAZ 25.5.2016 „Rauchendes Elend“)

Das „Kursbuch“ lebt noch und fragt: Ist Pegida Kunst? Oder das Zaubern?

0 Kommentare / Geschrieben am 1. Februar 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Sachbuch.

Wer über die Achtundsechziger spricht und die Befreiung der alten Bundesrepublik aus dem Mief der Adenauer-Zeit, der stößt auf das „Kursbuch“: Die Zeitschrift, herausgegeben von Hans-Magnus-Enzensberger, war wie ein Buch gebunden und hatte auf dem Umschlag nur eine einfarbige Fläche mit einem Inhalts-Fenster.

Ein Text von Samuel Beckett eröffnete das erste Kursbuch im Juni 1965: „Falsch anfangen“; Peter Weiss und Martin Walser beschlossen es mit einem Dossier über den Auschwitz-Prozess. Fünfzig Jahre später gibt es das „Kursbuch“ immer noch, hat mehrmals Verlag, Herausgeber und Richtung geändert und sogar sein Ende 2008 überlebt.

Der Hamburger Murmann-Verlag rettete das Kursbuch und gab vor Weihnachten die 184. Ausgabe  heraus: „Was macht die Kunst?“ Die Beiträge sind so bunt wie ehedem, einige Beispiele:

Warum PEGIDA hässlich ist von Herausgeber Armin Nassehi:

Die Kunst müssen Pegidisten noch mehr hassen als syrische Moslems und afghanische Kameltreiber. Diese bieten wenigstens eine vermeintliche Gestalt an, die einem die Sicherheit darüber vermitteln kann, nicht nur wie anders sie sind, sondern was sie anrichten in einer Welt, die ihr Eigenes verliert, wenn sie nicht aufpasst.

Ist Kochen eine Kunst? von Jürgen Dollase:

Eine kreative Kochkunst, die diesen Namen wirklich verdient, würde das Spiel mit den traditionellen Wahrnehmungsmustern aufbrechen, sich sehr weit vom üblichen Einordnen und Beurteilen („lecker“) lösen und dafür ganz eindeutig und unmittelbar eine ebenso sensibilisierte wie reflektierte Wahrnehmung anstoßen.

Ist Managen eine Kunst? von Martin Kornberger:

Das Problem des vorherrschenden Managementstils ist die Art und Weise, wie er das Globale und das Lokale, den local tracker und die global view miteinander in Verbindung bringt.

Menschen haben zu viel Gehirn von Ernst Pöppel, Eva Ruhnau und Alexandra von Stosch:

Die Großhirnrinde hat es durch seine rasante Entfaltung in den letzten Jahrhunderttausenden mit sich gebracht, dass wir schnell und effizient Lösungen finden können, eine Zukunftsperspektive haben… Das sind aber alles Nebeneffekte, die wir geneigt sind, überzubewerten. Das erste Ziel ist und bleibt, mit diesem fabelhaftem Gehirn seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen… Mit diesem überentwickelten Gehirn des Menschen ist das meist sehr schnell erledigt… Konsequenz ist zunächst quälende Langeweile, die Folge ist das Leiden an der Leere. Wie kann man dieser entfliehen?… Langeweile und deren versuchte Überwindung sind damit der eigentliche Antreiber für Kunst und Wissenschaft.

Ein Zauberer funkelt mittendrin: Der Hamburger Notar und Jura-Professor Peter Rawert ist selber ein Zauber-Künstler und beschreibt den rationalen Umgang mit dem Irrationalen als angewandte Psychologie: Wie gelingt es, Menschen zu täuschen, die wissen, dass sie getäuscht werden?

Zauberer schaffen Illusionen. Tun sie es, um andere zu schädigen, sind sie Betrüger. Tun sie es, um sich Kräfte anzumaßen, die auf einen Zugang zu höheren Mächten deuten, sind sie Scharlatane, Schamanen oder Schwarzkünstler. Tun sie es hingegen, um zu unterhalten, zu erstaunen, zum Lachen, Rätseln oder zum Nachdenken zu bringen, dann sind sie… im besten Fall sogar Künstler – Zauber-Künstler.

Kursbuch 184 „Was macht die Kunst?“, 200 Seiten, Murmann, 19 Euro

 

Weimar, die Krimi-Stadt: Eine wilde Geschichte um Lyonel Feiningers „Blaue Kathedrale“

0 Kommentare / Geschrieben am 31. Januar 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Führung, Krimis.

Felix Leibrock: Todesblau.  Knaur Taschenbuch,  350 Seiten, 9,99 Euro

Weimar ist die Klassiker-Stadt, die deutsche: Goethe, Schiller und viele mehr. Weimar ist die Krimi-Stadt, die thüringische: „Tatort“ mit Nora Tschirner, Felix Leibrock als Mankell von Weimar und Ralf Kirsten als Polizeichef, der in einem „Tatort“ eine tragende Nebenrolle hatte und von einem Neonazi verprügelt wurde, wirklich und nicht gespielt.

Ob Felix Leibrock, der Krimis schreibende Pfarrer, den Weimarer Polizeichef kennt? Wohl kaum. In seinem zweiten Weimar-Krimi „Todesblau“ heißt der oberste Polizist Remde: Ein unangenehmer Mensch, ein noch unangenehmerer Vorgesetzter, ein eitler Typ, dessen „Druckventil“ bisweilen platzt und den seine Vorgesetzten, „die Fuzzis in Jena oder Erfurt“, auch nicht mögen.

„Ganz schön viele Ichs“, denkt der Polizist Woltmann, der sich aus Berlin in seine Heimatstadt Weimar versetzen ließ. „Ob Remde immer schon so gewesen war? Oder hat ihn erst dieser ständige Rechtfertigungszwang, dieses unablässige Gemessenwerden an Ermittlungsergebnissen dazu gebracht, sich permanent zu beweihräuchern, und sei es auch nur für den kleinsten Erfolg?“

Typen wie Remde brauchen Untergebene, die treu ergeben sind, aber sonst wenig zum Erfolg beitragen. Scholz heißt der Speichel-Lecker in Leibrocks Krimi: Als sein Chef wieder einmal einen Erfolg feiert, der doch wieder keiner ist, als Remde „laut wie ein Rohrspatz triumphiert“, thront sein Scholz in der Pressekonferenz in der ersten Reihe, sein Scholz, „dessen Vorgarten auf der Schädeldecke vor lauter zustimmendem Kopfwackeln bei jedem Satz Remdes auf und ab wedelte“.

Wie funktioniert so ein Ermittler-Team? Leibrock schildert die Dynamik dieser Truppe in Weimar so treffend, dass allein das Zusammenspiel der unterschiedlichen Typen die Lektüre von „Todesblau“ lohnt. Auf der einen Seite der unleidliche, von Vorurteilen gelenkte Chef, und sein Verehrer Scholz; auf der anderen Seite Mandy Hoppe, eine kluge Ermittlerin mit diplomatischem Geschick, und ihr Ex-Schulfreund Sascha Wortmann, der als einfacher Polizist ins Team kommt, aber seine Chance nutzen will, endlich zur Kripo zu kommen.

Woltmann treibt die Handlung voran: Er rennt noch nicht in die Fallen der Routine, ist unkonventionell und bereit, Fehler zu machen und zu vertuschen – wenn sie der Sache dienen. So werden Sascha und Mandy zum Motor der Handlung, die doch recht träge fließt wie die Ilm in einem warmen Sommer.

Der Plot, die Handlung des Krimis, ist regelrecht weimarisch. Es geht um ein zufällig entdecktes Gemälde Lyonel Feiningers: Die blaue Kathedrale. Solch ein Gemälde ist intelligent erfunden. Lyonel Feininger schuf den Holzschnitt „Kathedrale“ auf dem Titelblatt von Gropius‘ „Bauhaus-Manifest“ von 1919; fünf Jahre später gründete er mit Paul Klee, Wassily Kandinsky und Alexej Jawlensky die Künstlergruppe „Die blauen Vier“. So spielt auch Gelmeroda, die kleine Dorfkirche oberhalb von Weimar, in Leibrocks Krimi mit: Über hundert Mal hat Feininger die Kirche mit dem markanten spitzen Kirchturm als Motiv gewählt.

Wer Weimar mag oder kennenlernen will, taucht in diesem Krimi tief in diese geschichtsträchtige Stadt ein: Der Elephant, der Park an der Ilm, der Gingko-Baum am Platz der Demokratie, die Bauhaus-Universität. In den Nebenhandlungen wirbelt DDR-Vergangenheit hinein: Im Ernst-Thälmann-Kinderheim misshandelten Erzieherinnen Kinder, die die Volkspolizei während der „Ungeziefer“-Deportationen aus dem Eichsfeld in die Nähe Weimar brachte.

Und wer Lust hat, kann nach den Vorbildern mancher Personen und Orte in Weimars Wirklichkeit suchen: Welcher Redakteur verbirgt sich hinter Stoffels? Welche Zeitung hinter der „Thüringer Rundschau“, die im Weimarer Pressehaus redigiert wird? Hinter Hallo-Weimar-TV? Dem Gut Eichenroda?

Weimars alte und neue Liebhaber werden ihre Freude an „Todesblau“ haben: Krimi-Liebhaber dagegen mühen sich eher durch den nur mäßig spannenden Krimi.

Am 22. April stellt Felix Leibrock nach „Tempelbrand“ und „Todesblau“ im Hotel Elephant seinen dritten Weimar-Krimi vor: „Eisesgrün“.

LESEPROBE

Remdes Tonfall war ins Hysterische gekippt.

„Chef, ich habe mal über Lombardi recherchiert“, wagte sich Scholz vor. Doch Remde überging den Einwurf und fuhr ungeniert fort.

„Als ich damals den Pferdemörder festgenommen habe, erinnert sich vielleicht noch jemand daran? Das war der Täter, der sämtliche Pferdehalter im Weimarer Land in Angst und Schrecken versetzt hat. Durfte ja in der DDR keiner offen sprechen drüber. Die Stasi hatte da die Hand drauf. Waren ja vielleicht politisch motivierte Taten, eine Art Denkzettel für bestimmte Parteibonzen, weil es kaum wohl zufällig deren Edelpferde waren, jedenfalls, wo war ich stehengeblieben? Ja, genau, damals, da hatten alle schon gemeint, der Pferdemörder sei nur dann zu finden, wenn man ihn auf frischer Tat ertappt. Aber was habe ich getan? Nun, was wohl?“

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Thüringer Allgemeine, Thüringen-Sonntag, 23. Januar 2016, Seite 31

 

 

Dass meine Seele ein weites Meer wäre

0 Kommentare / Geschrieben am 25. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein.

Vor gut 350 Jahre inspirierte Weihnachten den Dichter Paul Gerhardt zu Sprachbildern, die heute als Titel für Buch-Bestseller taugten: „Meine Seele wäre ein weites Meer“ und „Meine Sinne sind ein Abgrund“.

Entnommen ist die Zeile dem ursprünglich 15 Strophen umfassenden Gedicht „Ich steh an Deiner Krippen hier“:

Ich sehe dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen;
und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O daß mein Sinn ein Abgrund wär
und meine Seel ein weites Meer,
daß ich dich möchte fassen!

Knapp hundert Jahre später vertonte Johann Sebastian Bach das Lied; der Choral ist auch im Weihnachtsoratorium zu hören.

Ein ungewöhnliches DDR-Journalistenleben: Uwe Gerigs „Geschichten aus einem zerrissenen Land“

0 Kommentare / Geschrieben am 21. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Politik, Sachbuch.

 Am 7. November 1983 stellte eine Richterin am Kreisgericht Erfurt Mitte einen Haftbefehl aus – „weil konkreter Fluchtverdacht vorliegt und der Beschuldigte flüchtig ist“. Man könnte diese Begründung in das Kuriositäten-Kabinett der Justiz ablegen, wenn der Befehl einen Anlass zum Schmunzeln böte.

Wir lesen in der Begründung:

Der Beschuldigte erhielt gemeinsam mit seiner Ehefrau für die Zeit vom 10. Bis 25. Oktober 1983 eine Touristenreise in die SFRJ genehmigt. Von dieser Reise ist er gemeinsam mit seiner Ehefrau nicht wieder in die DDR zurückgekehrt. Am 18.10.1983 informierte er die Tochter, daß sich beide Beschuldigte in der BRD befinden und nicht wieder in die DDR zurückkommen.

SFRJ war Jugoslawien.

Der Beschuldigte ist Dr. Uwe Gerig, geboren in Nordhausen geboren und wohnhaft in Erfurt: Den Haftbefehl konnte er erst ein Jahrzehnt später lesen – in seiner Stasi-Akte. Mit dem Faksimile eröffnet der ehemalige Fotograf des „Volk“, dem SED-Vorgänger unserer Zeitung, sein Erinnerungsbuch „Krebs & Stier“.

Als ausgezeichneter „Aktivist der sozialistischen Arbeit“, der alle drei Jahre ein neues Auto kaufen durfte und der in einer großzügigen Penthouse-Wohnung lebte, fühlte sich Gerig als ein „nützlicher Idiot“: „Im Auftrag der Partei führte ich in unserem Blatt mit Bildberichten jede Woche von Neuem eine DDR vor, die es so gar nicht gab.“

Er war Erfurter Bezirks-Korrespondent der NBI, der „Neuen Berliner Illustrierte“, die Woche für Woche 48 Seiten hatte und eine Auflage von fast 750.000 Exemplaren. Die NBI-Position stand am Ende einer wahnwitzigen Karriere in der DDR: Gerig hatte Journalistik im „Roten Kloster“ in Leipzig studiert, wo „bedingungslos gehorsame Parteikader“ herangebildet wurden; er kam als Redakteur zum „Volk“; er nannte das ZK-Mitglied Eisler, als er von seinem Tod hörte „Ach, das Rumpelstilzchen“; dies Wort legte der Chefredakteur als „Verrat an der Sache der Arbeiterklasse“ aus und schmiss ihn raus: Er war arbeitslos – bis er das Angebot der NBI bekam, als freier Journalist zu berichten.

„Es reicht. Wir sollten gehen!“, sagte Gerig Frau Ruth trotzdem 1982. So begann eine ebenso abenteuerliche wie einzigartige Flucht:

Gerig bekommt eine Urlaubsreise nach Jugoslawien genehmigt, erhält im Zagreber Konsulat der Bundesrepublik von einem unwirschen Beamten zwar „Personen-Ersatzdokumente“, aber kein Geld für die Fahrkarte nach Österreich; von Freunden in Frankfurt lässt sich das Ehepaar Geld überweisen und flieht im Zug, nachdem es quälend lange auf die Überweisung gewartet hatte.

Das Buch ist eine Sammlung von rund 150 meist kurzen Episoden: Reisereportagen aus Nord-Korea und Vietnam, Erinnerungen aus dem Alltag in der DDR und der Bundesrepublik nach der Flucht. Der größte Teil  folgt dem Buch „Die Stasi nannte mich Reporter. Journalist in Ost und West“, das Gerig 2009 herausgegeben hat.

Pünktlich zum 25-Jahr-Jubiläum der Einheit hat er diese Texte aktualisiert und erweitert. Die Mischung der Artikel irritiert allerdings: Nur mühsam ist ein roter Faden zu entdecken. Sicher, Gerig erzählt sein Schicksal, aber das hätte er sinnvoller an einem Stück als Lebens-Roman erzählt. So muss sich der Leser das außergewöhnliche Leben eines DDR-Bürgers wie ein Puzzle zusammensetzen. Lesenswert ist es trotzdem.

*** Uwe Gerig: Krebs & Stier. Deutsche Geschichten aus einem zerrissenen Land. 368 Seiten, 24.90 Euro

 

LESEPROBE

Erfurt. Sieh mal an!

Erfurt kennen wir gut. In der Stadt haben wir achtzehn Jahre gewohnt. Erfurt ist uns trotzdem immer fremd geblieben. Keine Heimatgefühle? Keine Sehnsucht? Nein, nichts von allem. Seltsam!

Als wir unsere Wohnung in der Friedrich-Engels-Straße 47/144 1983 zum letzten Mal abschlossen und die vorher lange geplante Flucht in den WESTEN antraten, ließen wir Erfurt ohne Wehmut hinter uns.

Wegen der negativen persönlichen Erlebnisse in der Stadt, Denunziation, später ein Anwerbungsversuch durch den Staatssicherheitsdienst, Postkontrolle, Spitzelberichte und eine seltsame Stasi-Akte war Erfurt auch nach 1989 für uns ein abgeschlossenes Kapitel. Keine Heimatgefühle! Keine Sehnsucht!

Als mir eine Zeitschrift 2009 eine Reise nach Erfurt vorschlug, damit ich im Zusammenhang mit einer Buchveröffentlichung meine vor der Flucht 1983 in Erfurt gemachten Fotos mit Bildern von heute vergleiche, habe ich jedoch ohne Zögern zugesagt. Mit der Neugier des Reporters und Chronisten bin ich für zwei Tage in die Thüringer Landeshauptstadt gefahren.

Erfurt ist eine ansehenswerte Stadt geworden.

Ein erster Blick hinunter vom Petersberg auf den Domplatz und die Altstadt. Die Stadt scheint unverändert, was die Silhouette betrifft. Die hässlichen Betonklötze hinter den alten Türmen von Aegidiikirche und Kaufmännerkirche gab es damals schon, die noch höheren Wohnscheiben rechts von der Domgruppe sind erst Mitte der achtziger Jahre fertig geworden. Beide architektonischen Überbleibsel des realen Sozialismus umklammern alle anderen Häuser mit den steilen roten Ziegeldächern wie ein böser Krake.

Nach 1965 habe ich miterlebt, wie die im Zweiten Weltkrieg fast unzerstört gebliebene Altstadt von Erfurt nach und nach von Abrissbaggern plattgewalzt wurde. Hunderte kleine Wohnhäuser sind abgerissen worden, ganze Straßenzüge verschwanden. Die Namen der historischen Gassen gibt es nicht mehr. Ich habe damals den Abriss fotografiert, aber nur die Bilder von den Beton-Neubauten erschienen in der Zeitung. Und mein Archiv mit den vielen Dokumenten über das alte Erfurt hat der Staatssicherheitsdienst nach unserer Flucht beschlagnahmt, gründlich durchgesehen und dann am 16.07.1986 vernichtet. Unterschrift Major Küntzel. Das Dokument fand ich in meiner umfangreichen Stasi-Akte, die bei der Stasi-Unterlagen-Behörde, Außenstelle Erfurt, archiviert ist. Die Akte liegt in einem der ehemaligen Kasernengebäude auf dem Petersberg.

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Thüringer Allgemeine, Bücherseite, 9. Oktober 2015

Vom Abschreiben im Netz oder: Lernen, im Regen zu tanzen

0 Kommentare / Geschrieben am 19. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Zitate.

Man sollte im Leben nicht warten, bis der Sturm vorübergeht, sondern vielmehr lernen, im Regen zu tanzen.

Den Spruch las ich bei meiner Zahnärztin, die ihn am Empfang aufgestellt hat – mit dem Autoren-Hinweis: Theodor Fontane. Der Spruch, der aufgeregte Seelen wärmt, findet sich in einigen Zitate-Sammlungen, aber in Fontanes Werk ist er nicht zu recherchieren: Man schreibt also fleißig ab, einer vom anderen wie einst in der Schule und geht nicht an die Quelle. In welchem Zusammenhang taucht das Zitat auf? Was steht davor? Was dahinter?

Gerade das Internet hat uns unkritischer werden lassen: Wir glauben einfach, wenn bei Google einige Dutzend Belege zu finden sind. Nur – Google recherchiert nicht, Google kennt nicht die Wahrheit, Google listet auf.

Wer kennt den Ursprung des Zitats: Lernen, im Regen zu tanzen?

Von Abschied und Enttäuschung: Wie Hölderlin damit umging

0 Kommentare / Geschrieben am 5. September 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Roman, Zitate.

Ein Mensch – „und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein mißratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab“

Aus Hölderlins Briefroman „Hyperion an Bellarmin“, etwa  1799 geschrieben in der Nürtinger Neckarstiege in „der Mutter Haus“ – nach der Enttäuschung seines Lebens: Der 27-Jährige hatte sich unsterblich in Susette verliebt, die Frau des Bankiers Jakob Gontard, der ihn als Hauslehrer seiner Kinder verpflichtet hatte; als er die Liebe entdeckte, warf er Hölderlin raus.

Enttäuscht vom Leben ist auch der Grieche Hyperion, der seinem deutschen Freund Ballarmin schreibt: „Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen… Mein Geschäft auf Erden ist aus. Ich bin voll Willens an die Arbeit gegangen, habe geblutet darüber, und die Welt um keinen Pfenning reicher gemacht. Ruhmlos und einsam kehr ich zurück.“

Wie die Westfalen sind

0 Kommentare / Geschrieben am 29. August 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Zitate.

Die Sturheit der Westfalen ist die früheste Form der Nachhaltigkeit.

Der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau am 28. August 2015 zur Ausstellungs-Eröffnung „200 Jahre Westfalen“

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Quelle: RN-Newsletter von RN-Chefredakteur Wolfram Kiwit 29.8.

Islamisten, Martyrer und Jungfrauen

0 Kommentare / Geschrieben am 28. Juli 2015 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Gott, Glaube, Religion, Politik, Zitate.

Wer ernsthaft glaubt, nach dem Tod 72 Jungfrauen zu bekommen, der kann nicht erwachsen sein.

Der Anwalt eines jungen Mannes, der sich wegen Beteiligung am Terror in Syrien vor dem Oberlandesgericht München verantworten musste. Obwohl der Angeklagte bereits 21 Jahre alt ist, forderte sein Anwalt mit dieser „Jungfrauen-Begründung“ die Anwendung des Jugendstrafrechts.

Die Erde ist eine Scheibe oder: Ostern, moderne Auferstehung und die Ewigkeit der virtuellen Gedanken

Vergessen Sie die Geschichte von der Auferstehung. Vergessen Sie die Geschichte von dem Stein, den Josef vor das Felsengrab eines Hingerichteten wälzte. Vergessen Sie die die Priester und Pharisäer, die Verschwörung witterten, den Stein versiegeln und das Grab bewachen ließen: Man konnte ja nie wissen, ob das mit der Auferstehung nicht doch klappen könnte.

Erzählen wir eine moderne Geschichte von Tod und Auferstehung. Erzählen wir die Geschichte von Terry Pratchett, der erst ein Lokalredakteur, dann ein Dichter war und 60 Millionen Bücher verkaufte. Ein Gott oder Zufall dürfte kaum einem Dichter mehr Phantasie und Humor gegeben haben als Terry, den die englische Königin, die nicht für ihren Humor bekannt ist, an einem Silvestertag in den Adelsstand erhob. Da wusste er aber schon, dass er bald sterben muss.

Wenig später bekam er auch ein eigenes Wappen verliehen, in dem drei lateinische Worte stehen: „Noli timere messorem“, das man übersetzen könnte: Fürchte Dich nicht vor dem Schnitter, dem Sensenmann.

Da sind wir beim Sterben von Terry Pratchett am frühen Nachmittag des 12. März dieses Jahres. Doch siehe – noch um 16.07 schickte Sir Terry einen Tweet, eine elektronische Kurzmitteilung, an 145.484 Jünger, die ihm folgen: „The End“, stand da ganz lakonisch – „Das Ende“. Hat er sie selber geschickt aus dem, was wir das Jenseits nennen? Konnte er selbst in der ewigen Ruhe nicht das Smartphone aus der Hand legen?

Nun übertreiben wir mal nicht. Irgendjemand an seinem Totenbett wird sich sein Smartphone geschnappt haben, vielleicht sein Freund Rob: „Am Ende, Sir Terry, müssen wir zusammen gehen“, lesen wir – noch heute – in einer Notiz, abgeschickt um 16.06 Uhr.

Es folgte noch eine vorletzte Notiz auf dem Konto des toten Terry: „Terry nahm den Arm des Todes und folgte ihm durch die Türen und in die schwarze Wüste unter der endlosen Nacht.“ Ob Terry das noch gedichtet hat?

Alle Worte, die ersten und letzten, sterben nicht mehr mit den Menschen. Wer unter „Terry Pratchett“ in die Twitter-Welt eindringt, kann alles lesen, was der Mann vor und nach seinem Tod geschrieben hat. Es ist, als hätten wir den Stein vor dem Grab weggeschoben und lassen all unsere Gedanken für eine Ewigkeit auferstehen, übrigens auch all den Schrott, der besser schon vor unserem Tod für immer verschwunden wäre.

25.000 Jünger von Pratchett reichte diese Auferstehung nicht, sie wollte eine Auferstehung wie in der Bibel. Sie unterzeichneten eine Petition im Internet: Tod, gib uns den Dichter zurück! Der Tod las offenbar die Petition nicht, vielleicht hätten sie doch lieber an Gott geschrieben.

In der Welt, die wir virtuell nennen, also in dieser Welt der Möglichkeiten ist die Auferstehung wirklich geworden – zumindest die Auferstehung der Gedanken, Worte, Bilder und Töne. Nichts verschwindet mehr. Aber wo ist diese Welt, in der Billionen von digitalen Zeichen auf die Erlösung warten?

Ob es die Scheibenwelt ist, jene Phantasie-Welt des Terry Pratchett? Er baute die Welt in seinen Büchern, wie sie die Menschen dachten in biblischen Zeiten: Eine flache Scheibe. Der Dichter lässt sie von vier Elefanten tragen, die auf einer Riesen-Schildkröte stehen.

Einer von Pratchetts großen Verehrern ist Kurt Kister, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Für ihn schuf der Dichter der Phantasie nicht nur Welten, sondern auch Götter. In seinem Nachruf schrieb Kister:

„Vielleicht sind wir Geschöpfe Gottes. In jedem Fall aber sind die Götter Geschöpfe Terry Pratchetts.“ Was für eine Auferstehung!

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Erweiterte Fassung des Oster-Essays auf der Titelseite der Thüringer Allgemeine (Samstag, 4. April 2015)

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  • Andreas: Vielen Dank für den Spoiler…. manche Leute sollten wirklich überlegen die Finger vom Netz zu lassen.
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