Jenny Erpenbeck und die späte zweite DDR-Generation: Die Wende als „radikaler Vorgang“
Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, schaut auf ein Foto ihrer Schule in Ostberlin, die abgerissen wird für einen Neubau mit Eigentumswohnungen:
Für mich spiegelt sich in den Trümmern ein radikaler Vorgang wider. Auf dem ganzen Gebiet der DDR wurden Dinge abgeschafft: Gesetze, Sitten, die Produkte aus dem Supermarkt. Ich habe keine Sehnsucht nach der Vergangenheit, aber die Erfahrung, dass man von einem Tag auf den anderen in einem anderen Land lebt, hat mich und meine Generation geprägt. Vielleicht rührt daher die Angst mancher Leute, das Gefühl, man hat sich etwas erarbeitet und das will einem jetzt wieder jemand wegnehmen.
Als die Mauer fiel, studierte Jenny Erpenbeck Theaterwissenschaft, nachdem sie eine zweijährige Buchbinder-Lehre beendet hatte. Sie schaut auf ein Foto, das sie als Kind mit Zöpfen in der Wohnung der Großmutter mütterlicherseits zeigt – und sie erinnert sich an die Großmutter väterlicherseits, an Hedda Zinner. Es ist die Erinnerung an die erste Generation der DDR:
Als Kommunistin musste sie vor Hitler in die Sowjetunion flüchten, sie hat viel geopfert, um ihre Vision einer gerechten Welt zu verwirklichen. Später, in der DDR, war sie sehr bekannt, sie verkaufte 1,5 Millionen Bücher, signierte mit weißen Handschuhen auf dem Alexanderplatz ihre Werke. Nach dem Mauerfall ging ihr Verlag pleite, und sie musste mitansehen, wie ihr Lebenswerk nichts mehr zählte, weil die Geschichte andere Wege ging.
**
Quelle: Süddeutsche Zeitung, „Fotoalbum“, 21. November 2015
Nach Anschlägen in Paris äußerst aktuell: Wickerts neuer Krimi über korrupte Afrika-Politik Frankreichs
Ulrich Wickert: Das Schloss in der Normandie. Hoffmann-und-Campe-Verlag, 318 Seiten, 22 Euro
„Na schön, du kannst mich gerne zitieren“, sagt Roland Dumas, Anwalt und Ex-Außenminister Frankreichs. „Französische Politiker werden von afrikanischen Staatschefs finanziert. Punkt. Das ist die Grundlage der französischen Afrikapolitik. Scherzhaft nennt man das in Regierungskreisen „Revolutionssteuer“.
Der Anwalt, über 90 Jahre alt, erzählt dem Kommissar, wie er für Jacques Chirac Koffer voller Bargeld in Afrika abgeholt, im Rathaus abgeliefert und so seinen Wahlkampf finanziert hatte. „Das System läuft noch immer noch wie geschmiert. Es wurde gleich nach der Unabhängigkeit der französischen Kolonien in den sechziger Jahren eingerichtet. Und seitdem haben alle frankophonen Staatschefs in Afrika die politische Klasse Frankreichs finanziert.“
Dies ist die Schlüsselszene in Ulrich Wickerts sechstem Frankreich-Krimi um den Pariser Untersuchungsrichter Jacques Ricou. Wickert, der Korrespondent in Frankreich war, zeigt die dunkle Seite der stolzen französischen Nation, beschreibt die immer noch koloniale und korrupte Politik der Pariser Regierungen, ob von rechts oder links.
Die Handlung in Wickerts Krimi ist unbeabsichtigt aktuell geworden nach den Attentaten in Paris. Denn die Wurzeln des Terrors reichen in der Tat tief in die Kolonial-Historie Frankreichs. Anders als die meisten anderen Mächte hat Frankreich bis heute nicht auf seinen Einfluss, auch militärisch, verzichtet.
Frankreich ist Partei, stets auf Seiten der Diktatoren in Afrika, etwa in Mali: Dort beherrschen islamistische Terroristen weite Teile des Nordens trotz des Militär-Einsatzes der Franzosen. In Mali will künftig die Bundeswehr den Franzosen auf deren Bitten hin intensiv helfen.
Ulrich Wickerts Roman spielt in Paris und in dem kleinen westafrikanischen Staat Äquatorial-Guinea: Jesu, Vizepräsident des Landes und Sohn des Diktators, lebt feudal im teuersten Viertel von Paris und vermehrt seine Milliarden vor allem durch Huren, die er in den armen Ländern der Welt rekrutiert. Als ihn „Transparency International“ verklagt und Richter Ricou die Klage annimmt, dreht die Regierung durch:
Auf Druck des afrikanischen Diktators entlässt Frankreichs Präsident den zuständigen Minister und versucht, durch Intrigen und gefälschte Anschuldigungen den Richter aus dem Amt zu kegeln. In einer der schönsten Passagen des Romans erklärt ein Anwalt dem Staats-Gangster Jesu, wie die französische Justiz funktioniert; er überträgt die Gewaltenteilung ins Afrikanische:
„In Frankreich regieren drei rivalisierende Stämme: Der eine beherrscht die Nationalversammlung, der andere stellt den Präsidenten, und der dritte Stamm kontrolliert die Justiz.“ Das versteht der Präsidenten-Sohn und fragt: „Wer ist Clan-Chef der Justiz?“
„Das verstehen selbst viele Franzosen nicht“, erwidert der Anwalt. „Einen einzigen Clanchef gibt es nicht, sondern die Justiz wird von einem Rat der Weisen geführt, in dem auch Marabous und Juju-Priester sitzen.“
Auch das versteht Jesu – und es macht ihm Angst. „Marabous und Juju-Priester hatten große Macht und Zugang zu den bösen Geistern. Sie waren nicht zu zähmen. Selbst sein Vater fürchtete sich vor ihnen.“
Ulrich Wickert hat einen ruhig erzählten, gleichwohl spannenden Krimi geschrieben, der leicht in ein, zwei Nächten zu lesen ist. Seinen Reiz gewinnt er vor allem durch die Nähe zur aktuellen politischen Geschichte, so dass weite Teile des Buchs wie eine Dokumentation zu lesen sind, und eine Parallel-Handlung, die ebenso wenig erfunden ist wie die Neigung französischer Politiker zur Korruption: In dem Schloss in der Normandie, das dem Buch den Titel gibt, wird in Menschenversuchen an einer Wahrheits-Spritze geforscht – im Auftrag von Geheimdiensten wie dem CIA.
**** Lesenswert
Rubriken
Schlagworte
Abendland Abschied Aufklärung Betrüger Brecht (Bertolt) DDR Demokratie Dollase (Jürgen) Flüchtlinge Fortschritt Gadamer (Hans-Georg) Google Handelsblatt. Geschichten-Erzählen Hewlitt Packard Hirnforschung Internet Kochen Kornberger (Martin) Kunst Langeweile Management Nassehi (Armin) Ostern Pegida Plan (Kinderhilfswerk) Pratchett (Terry) Pöppel (Ernst) Rawert (Peter) Ruhnau (Eva) Saramago (Jose) Schamane Silicon-Valley Simbabwe Sprachbild Start-ups Stosch (Alexandra von) Suter (Martin) Syrien Süddeutsche-Zeitung Technik Tod Verlieren Whitman (Meg) Wickert (Ulrich) Zauberer
Letzte Kommentare
- Andreas: Vielen Dank für den Spoiler…. manche Leute sollten wirklich überlegen die Finger vom Netz zu lassen.
- Paul-Josef Raue: Lieber Herr Kretschmer, ich nehme das „Abendland“ nicht als geographischen Begriff,...
- Wolfgang Kretschmer: Sehr geehrter Herr Raue, was macht Sie so sicher, dass die Wiege des Abendlands in Bethlehem...
- Mr WordPress: Hi, das ist ein Kommentar. Um einen Kommentar zu löschen, melde dich einfach an und betrachte die...
Meistgelesen (Monat)
Noch keine Daten vorhanden.
Meistgelesen (Gesamt)
- Impressum 3.629 Aufrufe
- Beispiel-Seite 3.173 Aufrufe
- Über diese Seite 1.788 Aufrufe
- Paul-Josef Raue 1.721 Aufrufe
- Hallo Welt! 1.321 Aufrufe