Alle Artikel mit dem Schlagwort " Pegida"

Das „Kursbuch“ lebt noch und fragt: Ist Pegida Kunst? Oder das Zaubern?

0 Kommentare / Geschrieben am 1. Februar 2016 von Paul-Josef Raue in Allgemein, Bücher, Sachbuch.

Wer über die Achtundsechziger spricht und die Befreiung der alten Bundesrepublik aus dem Mief der Adenauer-Zeit, der stößt auf das „Kursbuch“: Die Zeitschrift, herausgegeben von Hans-Magnus-Enzensberger, war wie ein Buch gebunden und hatte auf dem Umschlag nur eine einfarbige Fläche mit einem Inhalts-Fenster.

Ein Text von Samuel Beckett eröffnete das erste Kursbuch im Juni 1965: „Falsch anfangen“; Peter Weiss und Martin Walser beschlossen es mit einem Dossier über den Auschwitz-Prozess. Fünfzig Jahre später gibt es das „Kursbuch“ immer noch, hat mehrmals Verlag, Herausgeber und Richtung geändert und sogar sein Ende 2008 überlebt.

Der Hamburger Murmann-Verlag rettete das Kursbuch und gab vor Weihnachten die 184. Ausgabe  heraus: „Was macht die Kunst?“ Die Beiträge sind so bunt wie ehedem, einige Beispiele:

Warum PEGIDA hässlich ist von Herausgeber Armin Nassehi:

Die Kunst müssen Pegidisten noch mehr hassen als syrische Moslems und afghanische Kameltreiber. Diese bieten wenigstens eine vermeintliche Gestalt an, die einem die Sicherheit darüber vermitteln kann, nicht nur wie anders sie sind, sondern was sie anrichten in einer Welt, die ihr Eigenes verliert, wenn sie nicht aufpasst.

Ist Kochen eine Kunst? von Jürgen Dollase:

Eine kreative Kochkunst, die diesen Namen wirklich verdient, würde das Spiel mit den traditionellen Wahrnehmungsmustern aufbrechen, sich sehr weit vom üblichen Einordnen und Beurteilen („lecker“) lösen und dafür ganz eindeutig und unmittelbar eine ebenso sensibilisierte wie reflektierte Wahrnehmung anstoßen.

Ist Managen eine Kunst? von Martin Kornberger:

Das Problem des vorherrschenden Managementstils ist die Art und Weise, wie er das Globale und das Lokale, den local tracker und die global view miteinander in Verbindung bringt.

Menschen haben zu viel Gehirn von Ernst Pöppel, Eva Ruhnau und Alexandra von Stosch:

Die Großhirnrinde hat es durch seine rasante Entfaltung in den letzten Jahrhunderttausenden mit sich gebracht, dass wir schnell und effizient Lösungen finden können, eine Zukunftsperspektive haben… Das sind aber alles Nebeneffekte, die wir geneigt sind, überzubewerten. Das erste Ziel ist und bleibt, mit diesem fabelhaftem Gehirn seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen… Mit diesem überentwickelten Gehirn des Menschen ist das meist sehr schnell erledigt… Konsequenz ist zunächst quälende Langeweile, die Folge ist das Leiden an der Leere. Wie kann man dieser entfliehen?… Langeweile und deren versuchte Überwindung sind damit der eigentliche Antreiber für Kunst und Wissenschaft.

Ein Zauberer funkelt mittendrin: Der Hamburger Notar und Jura-Professor Peter Rawert ist selber ein Zauber-Künstler und beschreibt den rationalen Umgang mit dem Irrationalen als angewandte Psychologie: Wie gelingt es, Menschen zu täuschen, die wissen, dass sie getäuscht werden?

Zauberer schaffen Illusionen. Tun sie es, um andere zu schädigen, sind sie Betrüger. Tun sie es, um sich Kräfte anzumaßen, die auf einen Zugang zu höheren Mächten deuten, sind sie Scharlatane, Schamanen oder Schwarzkünstler. Tun sie es hingegen, um zu unterhalten, zu erstaunen, zum Lachen, Rätseln oder zum Nachdenken zu bringen, dann sind sie… im besten Fall sogar Künstler – Zauber-Künstler.

Kursbuch 184 „Was macht die Kunst?“, 200 Seiten, Murmann, 19 Euro

 

Wie können wir das Abendland retten? Weihnachts-Leitartikel mit Pegida-Klängen

2 Kommentare / Geschrieben am 24. Dezember 2014 von Paul-Josef Raue in Essays und Kommentare, Gott, Glaube, Religion.

Sprechen wir also über das Abendland – jenes Land, das auf keiner Karte verzeichnet ist, das aber an jedem Montag von Demonstranten in Dresden gerettet wird. Was ist das Abendland?

Die Wiege des Abendlands stand vor zweitausend Jahren in Bethlehem, einem kleinen Ort im Morgenland. Heute gehört die Stadt, so groß wie das thüringische Arnstadt, zum Palästinensischen Autonomiegebiet; auf Arabisch heißt sie Bait Lahm, in ihr stehen hundert Moscheen und die Geburtskirche Jesu, ein Touristen-Magnet.

In Bethlehem mischen sich die Kulturen des Abendlands und des Morgenlands nicht nur friedlich, erst recht nicht im benachbarten Jerusalem, durch eine acht Meter hohe Mauer und eine Grenz-Kontrolle getrennt von der Geburtsstadt Jesu. Also – was ist das Abendland, das christliche? Was retten die Dresdener in ihrer Stadt, in der nur wenige Christen leben, zumindest dem Steuer-Register nach? Sie wollen offenbar etwas Existenzielles retten; dann aber sollten wir erkunden, was wir retten wollen.

Die Geburt Christi ist die Geburtsstunde des Abendlands, wenn wir darunter keine Himmelsrichtung verstehen – also die Abend-Regionen, in denen die Sonne untergeht -, sondern eine Werte-Gemeinschaft, die über zwei Jahrtausende wuchs, als einzige Institution alle Stürme überstand und die erste Globalisierung schuf, lange vor Google und Coca-Cola.

Der Gründungs-Mythos des Abendlands ist die Geschichte von der Geburt Jesu: Zwei junge Leute kommen in die Heimat der Väter zurück, werden wie Fremde behandelt, sind obdachlos und müssen ihr Kind in ärmlichen Verhältnissen zur Welt bringen. Kaum ist das Kind geboren, beginnt die Verfolgung: Die Familie muss ins Exil nach Ägypten fliehen, weil Herodes, der Mächtige im Land, das Kind töten will. Am Beginn steht die Machtfrage: Herodes vermutet einen Konkurrenten im Kampf um die Königswürde und will den Knaben ermorden.

Das Abendland hat zweitausend Jahre später noch dieselben Probleme: Machtkämpfe, Verfolgung, Flüchtlinge und Millionen Menschen, die machtlos sind und leiden. Wen wollen die Pegida-Demonstranten in Dresden retten? Stehen sie in der Tradition des Herodes? Oder der Bürger von Bethlehem, die ihre Häuser abschlossen und die Fremden aussperrten? Oder in der Tradition der Krippe?

Nun mag mancher Protest der „Patriotischen Europäer“ durchaus berechtigt sein, mag ein Weckruf sein für Politiker – doch die Retter des Abendlands sind die Demonstranten nicht. Mit der Abschottung Europas, erst recht nicht mit der Abschottung Deutschlands, retten wir weder uns noch die Verdammten dieser Erde.

Die Rettung des Abendlands ist aller Mühe wert, also die Rettung unserer Werte, der Menschenrechte und der Demokratie. Schauen wir kurz zurück: Die Geschichte des Abendlands war immer auch eine Geschichte der Verirrungen, der Kriege und der Machtgier – von den Kreuzzügen bis zur Inquisition und Ausbeutung der Armen; im Gegenzug brachte sie auch immer wieder Licht in das Dunkel – Aufklärung eben, die Entdeckung der Menschenwürde und mit der Demokratie die beste Kontrolle von Macht und Arroganz, die es je gegeben hat.

Doch rennt das Abendland wieder in die falsche Richtung: Geld und Gier – zum Beispiel – sind dabei, unsere Werte zu zertrümmern; global herrschende Unternehmen kontrollieren unser Leben; Terroristen bauen im Namen der Religion die Herrschaft des Bösen aus.

„Diese Wirtschaft tötet“, sagt Franziskus in Rom, der Nachfolger des Mannes, der seinen Reichtum als Ballast empfand und nach der Alternative suchte. Franziskus reiste, als er an die Macht kam, zuerst nach Lampedusa, wo die Vertriebenen stranden.

Wie können wir das Abendland retten? Welche Werte müssen wir retten? Wie viele Menschen – und welche – wollen wir retten? Und sind wir bereit, uns selber zu verändern und notfalls zu retten? Wären das nicht sinnvolle Fragen in der Ruhe des Festes und im Licht der Kerzen?

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Thüringer Allgemeine, 24. Dezember 2014

Letzte Kommentare

  • Andreas: Vielen Dank für den Spoiler…. manche Leute sollten wirklich überlegen die Finger vom Netz zu lassen.
  • Paul-Josef Raue: Lieber Herr Kretschmer, ich nehme das „Abendland“ nicht als geographischen Begriff,...
  • Wolfgang Kretschmer: Sehr geehrter Herr Raue, was macht Sie so sicher, dass die Wiege des Abendlands in Bethlehem...
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