Die Erde ist eine Scheibe oder: Ostern, moderne Auferstehung und die Ewigkeit der virtuellen Gedanken
Vergessen Sie die Geschichte von der Auferstehung. Vergessen Sie die Geschichte von dem Stein, den Josef vor das Felsengrab eines Hingerichteten wälzte. Vergessen Sie die die Priester und Pharisäer, die Verschwörung witterten, den Stein versiegeln und das Grab bewachen ließen: Man konnte ja nie wissen, ob das mit der Auferstehung nicht doch klappen könnte.
Erzählen wir eine moderne Geschichte von Tod und Auferstehung. Erzählen wir die Geschichte von Terry Pratchett, der erst ein Lokalredakteur, dann ein Dichter war und 60 Millionen Bücher verkaufte. Ein Gott oder Zufall dürfte kaum einem Dichter mehr Phantasie und Humor gegeben haben als Terry, den die englische Königin, die nicht für ihren Humor bekannt ist, an einem Silvestertag in den Adelsstand erhob. Da wusste er aber schon, dass er bald sterben muss.
Wenig später bekam er auch ein eigenes Wappen verliehen, in dem drei lateinische Worte stehen: „Noli timere messorem“, das man übersetzen könnte: Fürchte Dich nicht vor dem Schnitter, dem Sensenmann.
Da sind wir beim Sterben von Terry Pratchett am frühen Nachmittag des 12. März dieses Jahres. Doch siehe – noch um 16.07 schickte Sir Terry einen Tweet, eine elektronische Kurzmitteilung, an 145.484 Jünger, die ihm folgen: „The End“, stand da ganz lakonisch – „Das Ende“. Hat er sie selber geschickt aus dem, was wir das Jenseits nennen? Konnte er selbst in der ewigen Ruhe nicht das Smartphone aus der Hand legen?
Nun übertreiben wir mal nicht. Irgendjemand an seinem Totenbett wird sich sein Smartphone geschnappt haben, vielleicht sein Freund Rob: „Am Ende, Sir Terry, müssen wir zusammen gehen“, lesen wir – noch heute – in einer Notiz, abgeschickt um 16.06 Uhr.
Es folgte noch eine vorletzte Notiz auf dem Konto des toten Terry: „Terry nahm den Arm des Todes und folgte ihm durch die Türen und in die schwarze Wüste unter der endlosen Nacht.“ Ob Terry das noch gedichtet hat?
Alle Worte, die ersten und letzten, sterben nicht mehr mit den Menschen. Wer unter „Terry Pratchett“ in die Twitter-Welt eindringt, kann alles lesen, was der Mann vor und nach seinem Tod geschrieben hat. Es ist, als hätten wir den Stein vor dem Grab weggeschoben und lassen all unsere Gedanken für eine Ewigkeit auferstehen, übrigens auch all den Schrott, der besser schon vor unserem Tod für immer verschwunden wäre.
25.000 Jünger von Pratchett reichte diese Auferstehung nicht, sie wollte eine Auferstehung wie in der Bibel. Sie unterzeichneten eine Petition im Internet: Tod, gib uns den Dichter zurück! Der Tod las offenbar die Petition nicht, vielleicht hätten sie doch lieber an Gott geschrieben.
In der Welt, die wir virtuell nennen, also in dieser Welt der Möglichkeiten ist die Auferstehung wirklich geworden – zumindest die Auferstehung der Gedanken, Worte, Bilder und Töne. Nichts verschwindet mehr. Aber wo ist diese Welt, in der Billionen von digitalen Zeichen auf die Erlösung warten?
Ob es die Scheibenwelt ist, jene Phantasie-Welt des Terry Pratchett? Er baute die Welt in seinen Büchern, wie sie die Menschen dachten in biblischen Zeiten: Eine flache Scheibe. Der Dichter lässt sie von vier Elefanten tragen, die auf einer Riesen-Schildkröte stehen.
Einer von Pratchetts großen Verehrern ist Kurt Kister, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Für ihn schuf der Dichter der Phantasie nicht nur Welten, sondern auch Götter. In seinem Nachruf schrieb Kister:
„Vielleicht sind wir Geschöpfe Gottes. In jedem Fall aber sind die Götter Geschöpfe Terry Pratchetts.“ Was für eine Auferstehung!
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Erweiterte Fassung des Oster-Essays auf der Titelseite der Thüringer Allgemeine (Samstag, 4. April 2015)
Der Weg in die Stille – Ein Sohn begleitet seinen dementen Vater in den letzten Jahren des Lebens
Bernd Eichmann: Vatter baut ab. Eine Geschichte von Demenz und Liebe. Gütersloher Verlagshaus, 192 Seiten, 17.99 Euro
Wann hören wir auf zu leben? Wenn Ärzte die Apparate abstellen? Wenn der Totenschein ausgestellt wird? Oder schon viel früher: Wenn die Erinnerung in einem Nebel verschwindet? Wenn wir Menschen, die wir lieben, bisweilen nicht mehr erkennen? Wenn wir die Kontrolle über unseren Körper verlieren?
Wann beginnen wir zu sterben? Wir streiten uns oft unbarmherzig über den Zeitpunkt des Todes, die Organspende, über die Sterbehilfe mittels eines Schirlingbechers – und vergessen, dass sich die meisten Menschen weniger dramatisch verabschieden: Langsam, milde, satt vom Leben. Und wir vergessen, dass die Zurückbleibenden meist mehr leiden als die Sterbenden.
Einer dieser Zurückbleibenden hat ein wunderbares Buch geschrieben über das fast drei Jahre währende Sterben seines Vaters. Dies Buch des Journalisten Bernd Eichmann ist ein Wunder, weil es dem Sterben seine Würde zurückgibt – als Teil unseres Lebens. Sterben ist kein Zeitpunkt, meist auch kein kurzer Prozess, sondern eine abenteuerliche Reise.
Es ist eine Reise zurück. Der Sohn fragt, den dementen Vater beobachtend: „Vielleicht ist der vernunftbegabte Mensch nur ein Unfall der Evolution und Alzheimer ein Korrektiv?“
Diese Frage, ja dieser „metaphysische Schauer“ kommt dem Sohn, als er sieht, wie sich der Vater mit einem Kater anfreundet:
Vatter, der als Kind einert gefühlskalten Mutter und einer gewalttätigen Zeit Zärtlichkeit nie kennenlernen durfte, streicht mit sanfter, vorsichtiger Hand dem Kater das sonnenwarme Fell. Ganz konzentriert, vertieft in das Du.
Bernd Eichmann nimmt sich Zeit für die beiden letzten Lebensjahre seines Vaters: Ist das Sterben? Ist es noch Leben? Auf jeden Fall fällt dem Sohn der lange Abschied schwerer als dem Vater.
Er schreibt eine Art Tagebuch, notiert und analysiert die Phasen – während der Vater einfach lebt. „Alles andere ist Gedankenmüll“, schreibt der Sohn.
Diagnose Alzheimer, fortgeschritten:
„Sie sollten es nehmen, wie es ist!“, sagt der Arzt. „Ein Mensch erlischt. So ist das Leben.“
Von der eigenen Wohnung ins Heim:
Ob es ihm hier nicht langweilig würde, fragt der Sohn. Er langweile sich nie, sagt der Vater, er denke nach. „Über sein Leben? Nein, über das, was er sieht“, sagt der Vater.
Umzug ins Haus des Sohns:
Vater dreht wieder allein seine Runde, verläuft sich, wird von der Polizei aufgegriffen. „Da mein Vater Zukunft nicht mehr denken kann und unmittelbar Vergangenes schnell vergisst, hat er nur Probleme mit der Gegenwart. Am liebsten wäre ihm die Wiederholung des ewig Gleichen.“
Die erste Ahnung vom Alt-Sein:
„Vatter muss die Dinge langam belichten, um sie wahrnehmen zu können. Alles Schnelle, Hektische fällt durch sein grobmaschiges Raster. Jüngere Hirne reagieren umgekehrt: Das Neue, Schnelle, Plötzliche nimmt die Aufmerksamkeit sofort gefangen. Ein lebenserhaltender Reflex: Es könnte etwas Gefährliches sein und eine sofortige Reaktion erfordern! … Ich habe zum ersten Mal eine Ahnung davon, was es heißt, alt zu sein. Und dement.“
Die Verzweiflung des Sohns: Er versteht den Vater nicht mehr, der die Klobürste in die Blumenvase steckt, er kann die Worte nicht mehr entschlüsseln. „Versuche verzweifelt, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben, weil ich mich mit Vatters Krankheit nicht abfinden will. Denn wo kein Sinn mehr ist, beginnt die große Angst.“
Erinnerung an Buchenwald:
Der Vater war ein jüdischer Fabrikant, den die Nazis in Buchenwald internierten. Schwer traumatisiert kehrt der 23jährige nach dem Krieg zurück, fasst nur noch schwer Fuß und wird mit 53 mit einem „KZ-Syndrom“ berufsunfähig.
Das Bett:
Die Welt wird kleiner. Durch ein großes Panoramafenster schaut er aus seinem Bett, an das er gefsselt ist, ruhig auf die Welt. „Das ist das Geschenk seines hohen Alters: Die Gnade einer Welt hinter Glas.“ Er schaut noch auf seine Bücherwand, aber liest nicht mehr. In einem klaren Moment sagt er: „Wenn du alles getan hast, gehst du in die Stille.“
Der Sohn leidet – weil er den Vater nicht verstehen kann.
Der Grund für mein Schwächeln ist nicht mein biologisches Alter. Es ist meine geistige Disposition: Ich bin linkshirnig, verkopft und neurotisch, eine sprachgesteuerte Intelligenzform, die Körpersignale nicht gewohnt ist.
Ich bin jederzeit bereit, Shakespeare-Sonette zu rezitieren, Kästnergedichte und Fabeln von Lafontaine. Natürlich komplett und in den Originalsprachen. Das Problem ist nur: Das hilft mir alles nicht. Denn Vatter kann man nicht auswendig lernen.
Mit einer Lungenentzündung kommt der Vater ins Krankenhaus, sagt zu seinem Sohn sanft „Du kannst jetzt gehen“ und stirbt wenig später. Allein.
MARKIERT (Leseprobe aus Eichmanns „Vatter baut ab“)
Der Augenmensch
Vatter ist darauf angewiesen, die Welt zu sehen. Alter und Krankheit haben ihn schwerhörig gemacht und ihm Geruch und Geschmack geraubt. Das Fühlen hat er sich schon im Arbeitslager der Nazis abgewöhnt; es war zu ungenau und damit zu gefährlich.Vatter guckt nur, mit den Augen eines Falken. Liest in Gesichtern. Registriert jede Veränderung. Und weiß Bewegungen zu deuten. Auch das hat er als junger Zwangsarbeiter lernen müssen: Sein Überleben hing davon ab. Heute ist das anders: Was hinter der Panoramascheibe zu sehen ist, bedroht ihn nicht. Er darf der Welt zuschauen, ohne beteiligt oder betroffen zu sein. Das ist das Geschenk seines hohen Alters: die Gnade einer Welt hinter Glas.
Diesseits der Scheibe ist Vatter zu Hause: In seinem Zimmer, das er sehr ungern verlässt. Denn das Verlassen dieses Zimmers heißt verlassen werden, verlassen sein: in der Ambulanz, im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Er hat sich eingesponnen in seinen vier Wänden. Betrachtet sie jeden Morgen, wenn das Licht angeht, mit unstillbarer Neugier. „Hier bin ich also!“, sagen seine Augen: „Hier ist es gut!“ Und deshalb lasse ich ihn erst einmal schauen, gönne ihm ein gutes Stündchen für sich alleine, bevor wir beide mit den Zwangsläufigkeiten des Alltags beginnen.
Vatter ist gerne allein. Schon früher wurde ihm menschliche Gesellschaft bald lästig: Sie hielt ihn ab von der Kontemplation. Er ist sich selbst genug, für eine lange Weile.
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