„Geh weg, Du Bastard“ – Jimmy Hartwig erzählt Thomas Thieme im Weimarer „Elephant“ sein abgründiges Leben
Thomas Thieme, Weimars großer bissiger Schauspieler, setzt Jimmy Hartwig, den Ex-Fußball-Nationalspieler, auf die rote Couch und lässt ihn sein wildes Leben erzählen. Thieme mit weißem Hemd, das über die Hose schwappt, spielt Dr. Freud, ein Nachfahre des Wiener Seelendoktors, und Hartwig spielt Hartwig in knielanger Lederhose, wie sie die Spieler von Bayern München auf ihren obligatorischen Meisterfeiern tragen.
Thieme und Hartwig trafen sich am Samstag vor Ostern zum Zweikampf um Hartwigs Seele im Wagner-Saal des Weimarer Hotel Elephant. Dessen Direktor Kay-Oliver Heller durfte eingangs sogar mitspielen, war Freuds Assistent, der zuerst die Musik ausschalten musste, das „Schlager-Zeug“, dann das Licht.
„Sprechen Sie in einfachen Sätzen!“, blafft Freud seinen Patienten an, für den die rote Couch zu klein ist: Die Beine hängen über der Lehne. „Sprechen Sie mal einen vor!“, antwortet Hartwig, der Jimmy. Freud muss passen, Hartwig ist schlagfertiger – kein Wunder, denn es ist sein Leben, das er erzählt, kein inszeniertes, geschöntes, fürs Publikum aufbereitetes.
Es ist ein deutsches Leben, in dem sich unsere Geschichte ebenso spiegelt wie unsere Vorurteile und Abneigungen. Dr. Freud seziert weniger Hartwigs Seele als die deutsche, deren Abgründe in einem Menschenleben zu besichtigen sind:
Jimmy Hartwig ist kein weißer Deutscher, ist ein Nachkriegskind, gezeugt aus der kurzen Liaison einer Offenbacherin mit einem GI, einem farbigen US-Soldaten; der kehrt in die Staaten zurück, als Jimmy zwei Jahre jung ist; nur einmal noch begegnet Jimmy ihm: Als er vier Jahre ist, schenkt sein Vater ihm einen Fotoapparat und verschwindet aus seinem Leben.
Hartwigs Hautfarbe stört viele Menschen, denen er in seinem Leben begegnet und die es ihn spüren lassen. Der erste, den Jimmys Farbe stört, ist sein Opa, ein alter Nazi, der ihm jeden Morgen eine „Pflicht-Ohrfeige“ verpasst: „Geh weg, Du Bastard!“
Jimmy wächst in Offenbach auf, einer Arbeiterstadt, direkt neben der Banken-Metropole Frankfurt gelegen. Seine Heimat ist das Armenviertel, das Dr. Freud thüringisch „Blechbüchsen-Viertel“ nennt. Aus dem Viertel will Jimmy raus. Aber sie lassen ihn nicht.
Der Lehrer in der Volksschule erklärt seiner Mutter: Der Junge ist dumm. Die Mutter nickt und lässt zu, dass er auf die Pestalozzischule kommt, eine Sonderschule. Dort findet er zum ersten Mal einen guten Menschen: Ein Lehrer entdeckt seine wahren Talente und schickt ihn auf die Realschule.
Doch sein eigentliches Leben beginnt für Jimmy auf dem Fußballplatz: Erst wollen sie ihn nicht mitspielen lassen, dann fehlt einer und die Karriere nimmt ihren Lauf – allerdings fast durchweg ohne das, was Jimmy „soziale Anerkennung“ nennt. Die muss er sich selber schenken: Zur Belohung für ein gutes Spiel kauft sich der Junge eine „Zehnerbrause“, einen Zitronensprudel für zehn Pfennige.
Jimmy stolpert durch eine Fußball-Karriere, mal Star, mal Verlierer – erst in Offenbach, gleich nebenan auf dem legendären Biberer Berg, dann in Osnabrück, wo ihn seine Mitspieler mobben, und in München, wo Max Merkel ihn vorführt und die Bildzeitung ihm so zusetzt, dass seine Frau sich schämt, noch beim Metzger einkaufen zu gehen.
Beim Hamburger SV spielt sich Jimmy Hartwig in die Herzen der Zuschauer, wird drei Mal Deutscher Meister, zweifacher Nationalspieler, verdient anderthalb Millionen Mark im Jahr – und vertraut Menschen, die sein ganzes Geld verspekulieren.
Beim 1. FC Köln beginnt der Abstieg: Austria Salzburg, FC Homburg, Trainer bei Sachsen Leipzig und SV Soltau folgen. Als er unten aufgeschlagen war, kam erst der Koks, das Rauschgift, dann dreimal der Krebs. Mehr geht eigentlich nicht.
Thomas Thieme rettet ihn und entdeckt sein Schauspiel-Talent: Hartwig spielt den Kaufmann Mäch in Thiemes Inszenierung von Brechts Baal am Nationaltheater in Weimar: in Leipzig spielt er den Woyzeck in Büchners Drama.
Seit zwei Jahren ist Hartwig Integrationsbeauftragter des DFK und spricht in Flüchtlingsheimen und Schulen. Über seinen Auftritt im „Dschungelcamp“ sprach er im Elephanten nicht, und Dr. Freud fragte nicht. Es reichte eben.
Freud und Hartwig führten einen Oster-Spaziergang durch die deutsche Seele, auch durchaus vergnüglich entlang der Abgründe. Zu aller Überraschung spielt Hartwig den Thieme an die Wand, was selten genug geschehen dürfte; oder, um es charmanter zu sagen: Thieme lässt Hartwig, seinem Freund, den Vortritt. Das Stück ist auch auf Hartwig zugeschnitten, und so wäre zu überlegen, ob die Form überhaupt stimmt: Ein Leben auf der Couch.
Für Jimmy Hartwigs Leben braucht man keinen Psychologen – der Freud wirkt aufgesetzt -, ein Gespräch unter Freunden könnte sogar ergiebiger sein. Denn Thieme ist immer schlagfertig und echt, wahrscheinlich auch ohne Freud im Kopf.
Geduld und Zorn (Zitat der Woche)
Geduld ist, seinen Zorn für den richtigen Augenblick aufzubewahren.
Terry Pratchett, zitiert nach einem Twitter-Eintrag (unautorisiert)
Die Erde ist eine Scheibe oder: Ostern, moderne Auferstehung und die Ewigkeit der virtuellen Gedanken
Vergessen Sie die Geschichte von der Auferstehung. Vergessen Sie die Geschichte von dem Stein, den Josef vor das Felsengrab eines Hingerichteten wälzte. Vergessen Sie die die Priester und Pharisäer, die Verschwörung witterten, den Stein versiegeln und das Grab bewachen ließen: Man konnte ja nie wissen, ob das mit der Auferstehung nicht doch klappen könnte.
Erzählen wir eine moderne Geschichte von Tod und Auferstehung. Erzählen wir die Geschichte von Terry Pratchett, der erst ein Lokalredakteur, dann ein Dichter war und 60 Millionen Bücher verkaufte. Ein Gott oder Zufall dürfte kaum einem Dichter mehr Phantasie und Humor gegeben haben als Terry, den die englische Königin, die nicht für ihren Humor bekannt ist, an einem Silvestertag in den Adelsstand erhob. Da wusste er aber schon, dass er bald sterben muss.
Wenig später bekam er auch ein eigenes Wappen verliehen, in dem drei lateinische Worte stehen: „Noli timere messorem“, das man übersetzen könnte: Fürchte Dich nicht vor dem Schnitter, dem Sensenmann.
Da sind wir beim Sterben von Terry Pratchett am frühen Nachmittag des 12. März dieses Jahres. Doch siehe – noch um 16.07 schickte Sir Terry einen Tweet, eine elektronische Kurzmitteilung, an 145.484 Jünger, die ihm folgen: „The End“, stand da ganz lakonisch – „Das Ende“. Hat er sie selber geschickt aus dem, was wir das Jenseits nennen? Konnte er selbst in der ewigen Ruhe nicht das Smartphone aus der Hand legen?
Nun übertreiben wir mal nicht. Irgendjemand an seinem Totenbett wird sich sein Smartphone geschnappt haben, vielleicht sein Freund Rob: „Am Ende, Sir Terry, müssen wir zusammen gehen“, lesen wir – noch heute – in einer Notiz, abgeschickt um 16.06 Uhr.
Es folgte noch eine vorletzte Notiz auf dem Konto des toten Terry: „Terry nahm den Arm des Todes und folgte ihm durch die Türen und in die schwarze Wüste unter der endlosen Nacht.“ Ob Terry das noch gedichtet hat?
Alle Worte, die ersten und letzten, sterben nicht mehr mit den Menschen. Wer unter „Terry Pratchett“ in die Twitter-Welt eindringt, kann alles lesen, was der Mann vor und nach seinem Tod geschrieben hat. Es ist, als hätten wir den Stein vor dem Grab weggeschoben und lassen all unsere Gedanken für eine Ewigkeit auferstehen, übrigens auch all den Schrott, der besser schon vor unserem Tod für immer verschwunden wäre.
25.000 Jünger von Pratchett reichte diese Auferstehung nicht, sie wollte eine Auferstehung wie in der Bibel. Sie unterzeichneten eine Petition im Internet: Tod, gib uns den Dichter zurück! Der Tod las offenbar die Petition nicht, vielleicht hätten sie doch lieber an Gott geschrieben.
In der Welt, die wir virtuell nennen, also in dieser Welt der Möglichkeiten ist die Auferstehung wirklich geworden – zumindest die Auferstehung der Gedanken, Worte, Bilder und Töne. Nichts verschwindet mehr. Aber wo ist diese Welt, in der Billionen von digitalen Zeichen auf die Erlösung warten?
Ob es die Scheibenwelt ist, jene Phantasie-Welt des Terry Pratchett? Er baute die Welt in seinen Büchern, wie sie die Menschen dachten in biblischen Zeiten: Eine flache Scheibe. Der Dichter lässt sie von vier Elefanten tragen, die auf einer Riesen-Schildkröte stehen.
Einer von Pratchetts großen Verehrern ist Kurt Kister, der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Für ihn schuf der Dichter der Phantasie nicht nur Welten, sondern auch Götter. In seinem Nachruf schrieb Kister:
„Vielleicht sind wir Geschöpfe Gottes. In jedem Fall aber sind die Götter Geschöpfe Terry Pratchetts.“ Was für eine Auferstehung!
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Erweiterte Fassung des Oster-Essays auf der Titelseite der Thüringer Allgemeine (Samstag, 4. April 2015)
Wenn Geld die Demokratie ruiniert: Thore Hansens Banken-Thriller „Quantum Dawn“
Thore D. Hansen erzählt in seinem Thriller „Quantum Dawn“ eine Verschwörungs-Geschichte vom Weltuntergang durch Algorithmen und Machtgier. Am Ende siegt eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die moderne Welt
Der Leiter der Börsenaufsicht in London, einem der bedeutendsten Finanzplätze der Welt, schaut auf seinen Bildschirm und gerät in Panik: Ist das der lang erwartete Zusammenbruch? Sind die Handelssysteme manipuliert?
Ja, sie sind manipuliert. Die weltweiten Finanzsysteme sind eingestürzt. Da alle Börsen mit allen vernetzt sind, ist der Zusammenbruch offensichtlich das Ende der uns bekannten Zivilisation.
So endet der Thriller des Soziologen und Journalisten Thore D. Hansen, der in Österreich lebt; er erlebte die Finanzkrise als Berater von zwei europäischen großen Banken, wie aus seinem Lebenslauf hervorgeht.
Der Weltuntergang ist ein beliebtes Thema, seitdem Menschen schreiben und lesen und sich ängstigen: Die grausigsten Bilder erfand der Autor der Apokalypse in der Bibel, die dunkelsten Ahnungen vom Ende der Welt trieben Martin Luther um, und Frank Schätzing jagt seine aufgeklärten Leser auf tausend Seiten „Der Schwarm“ durch Naturkatastrophen von giftigen Quallen bis zu Tsunamis, die das Ende der Menschheit bedeuten.
Heute brauchen die Menschen nicht mehr die Natur, um sich ihren Untergang auszudenken: Sie schaffen es mit Machtgier und Algorithmen. So jedenfalls konstruiert es Thore D. Hansen und bedient sich dabei Verschwörungstheorien, wie sie in Pegida-Kreisen populär sind. Dafür steht im Buch die Scotland-Yard-Polizistin Rebecca Winter, die für den deutschen Agenten Eric Feg die Welt in Schwarz und Weiß einteilt. „Eine solche Weltsicht versperrt den Blick“, denkt sich der deutsche BND-Mann, „beschränke die Fähigkeit, einen Menschen in seiner Kompliziertheit zu erfassen.“
Am Ende behält die Schwarz-Weiß-Weltsicht die Oberhand: Der Raubtier-Kapitalismus frisst seine Kinder.
Thore D. Hansen versucht zwar, die komplizierten Mechanismen der Finanzwelt verständlich zu machen und die Herrschaft der Algorithmen zu beschreiben. Aber hängen bleibt beim Leser: Es ist alles schon zu spät. Bill Gates, Warren Buffett und die Super-Milliardäre haben längst das Kommando übernommen, den Übergang von der Demokratie in die Diktatur der Wirtschaft vollzogen. Zudem ist schon jeder Mensch durchschaubar, bis in seine Gefühle hinein, und jeder Politiker manipulierbar oder gefügig.
Warum liegen solche Geschichten derzeit so im Trend? Nach der Finanzkrise, dem Banken-Desaster und den NSA-Enthüllungen glauben immer mehr Menschen alle möglichen Verschwörungen nach dem Muster: Da wird schon etwas dran sein!. In der Tat ist immer etwas dran, aber eben nur: etwas. Wer spannende Lektüre sucht und tiefer in die komplizierte Materie der Finanzen einsteigen will, der ist mit Robert Harris‘ Thriller „Angst“ von 2011 besser bedient. Zudem erzählt Harris seine Geschichte zu Ende.
Bei Thore D. Hansen endet die Geschichte mit dem Satz eines Händlers auf der Frankfurter Börse, der zu einem Kollegen schaut: „Komm! Wir hauen besser ab, bevor die Menschen die Paläste stürmen.“ Es folgt nur noch ein „Memo“ für die UN-Generalversammlung: „Für die westliche Welt besteht das Risiko einer völligen Destabilisierung der Gesellschaften.“
Was wird aus den beiden Hauptfiguren des Romans, aus Rebecca und Eric? Was wird aus der leisen Romanze? Nichts. Der Roman endet, als wäre die Erde eine Wüste geworden. So unbarmherzig ist selten ein Autor mit den Erwartungen seiner Leser umgegangen: Ein Buch ohne Ende – sei es ein Happy End oder eine Tragödie – könnte man als Zumutung bezeichnen.
Dennoch – wer einen spannenden Thriller lesen will mit reichlich Morden und Verwicklungen, mit undurchsichtigen Typen und fiesen Charakteren, der wird unter einer Voraussetzung gut bedient: er muss das Buch in einem Zug lesen, sonst schwirren die Namen in seinem Kopf. Und wie so oft bei Thrillern: Wäre das Buch um die Hälfte kürzer, wäre das Vergnügen des Lesers doppelt so groß.
Thore D. Hansen: Quantum Dawn, Europa-Verlag, 463 Seiten, 16,99
Was ist Diplomatie?
Schlafloser Takt, unbeirrbare Gemütsruhe und Geduld, die keine Torheit, keine Provokation, keine Anrempelei erschüttern kann.
Lord Salisburys Definition der Diplomatie, zitiert von Theo Sommer im empfehlenswerten Zeit-Blog „Fünf vor 8:00“, der allerdings stets früher kommt.
Sommer zitiert auch den britischen Ministerpräsident Harold Macmillan, den ein Journalist nach dem treibende Motiv seiner Außenpolitik fragte: „Events, my boy, events“ – Ereignisse. Sommer kommentiert, mit Blick auf Merkels Putin-Diplomatie: Kein Wort von Visionen, von Plänen, von Strategie.
Sommer zitiert auch Kennedys Verteidigungsminister Robert McNamara:
So etwas wie Strategie gibt es nicht. Es gibt nur Krisenmanagement.
Die Routine und der Tod
Der größte Feind des Lebendigen ist die Routine: Kenn ich schon, weiß ich schon – deine Urteile sind fertig. Das ist der Tod. Die Welt muss immer fremd werden für dich – und dann kippt sie um.
Hubert Burda in Anlehnung an seiner Freund Peter Handke („Was Handke Ursprungsbilder nennt, ist das, was ich im Leben suche“)
Zeit-Magazin 6/2015
Wer ist ein guter Politiker?
„Dialog“ muss das Wort des Jahres werden! Oder das Unwort, je nach politischer Orientierung. Wird ein Problem in unserer Gesellschaft artikuliert, kommt mit Sicherheit ein Politiker oder Bischof und sagt reumütig: Darüber müssen wir in einen Dialog eintreten – als ob es einen Ort in unserer Demokratie gäbe, auf dem „Eintritt verboten“ steht.
„Diesen Protest müssen wir ernst nehmen! Damit muss sich endlich die Politik beschäftigen! Wir müssen den Menschen besser erklären, was wir tun!“, so tönen gleich mehrere Politiker, nicht nur von der Opposition, wenn Demonstranten für oder gegen etwas sind – gegen eine Koalition, gegen Rechts oder gegen Links, gegen ein Flüchtlingsheim, gegen Europa oder für das Abendland. Schaffen es die Demonstranten sogar in die „Tagesschau“, dann werden die Minen von Politikern noch ernster und selbst unaufgeregte wie der Schäuble geloben Besserung.
Als ob sich die Politik nicht unentwegt mit allem beschäftigt, aber die meisten einfach nicht hinhören. Als ob es in Zeiten des Internets nicht einfach wäre, alles und alle runterzumachen, mal kurzerhand eine Beleidigung in die Welt zu brüllen, unterstrichen mit der Bemerkung: Auf das Volk hört ja keiner!
Also Dialog! Aber wollen alle, die das fordern, überhaupt reden? Und wen schicken sie zum Reden? Wählen sie ihre Vertreter und fordern gleichzeitig: Alle Gewählten lügen und denken nur an sich? Woher wissen sie, dass sie eine Mehrheit hinter sich haben? Oder interessiert sie das nicht? So viele Fragen und noch mehr wie: Haben wir eigentlich keine anderen Probleme?
Deutschland war in diesem Jahr wieder eine Insel des Friedens und der Zufriedenheit: Uns geht es in einer großen Zahl so gut wie niemals zuvor, der Optimismus erreicht Rekordwerte, während um uns herum die Welt immer schwärzer wird. Selten zuvor sind Krieg, Unterdrückung und Verfolgung so nah an unsere Grenzen gerückt: Der Bürgerkrieg in der Ukraine wütet nicht einmal eine Tagesreise entfernt, und die Bürgerkriege in Syrien, direkt an der Nato-Grenze, und im Irak liefern uns Bilder der Grausamkeit, die keine Zeitung bei uns und kein Fernseh-Sender zu zeigen wagt.
Mit Gott, den sie Allah nennen, auf ihrer Seite bauen Fanatiker vor Europas Haustür einen Staat wie im Mittelalter: Längst verscharrte Teufel kriechen wieder aus den Katakomben der Geschichte ans Licht, verbrennen Menschen oder schlagen sie ans Kreuz – und schwenken freudig ihre schwarzen Fahnen, wenn wir die wenigen, denen die Flucht gelungen ist, so schnell wie möglich zurückschicken wollen.
Es ist ein großer Wert, den inneren Frieden in einer Gesellschaft zu bewahren. Nur – ist er in Deutschland wirklich bedroht? Und wenn ja: von wem?
Wer sind wir in dieser unruhigen Welt – dass wir uns um unsere Achse der Selbstzufriedenheit drehen, als wären wir der Mittelpunkt? Was wollen wir eigentlich?
Es lohnt eine Selbstbesinnung auf die Werte der Demokratie, also der Form des Zusammenlebens, die vor Willkür und Menschenverachtung am besten schützt. Dafür brauchen wir Volksvertreter mit Rückgrat – die zuhören können, die Rückgrat haben und ein Gewissen besitzen statt nur einen Riecher für Umfragen und Volkes labilen Willen, oft von der Laune des Moments bestimmt.
Als sich Anfang Oktober der Landtag in Brandenburg zur ersten Sitzung traf, hielt der Älteste eine Rede. Er fragte: Was ist ein guter Politiker? Ein guter Volksvertreter?
Ist das einer, der den Wähler verspricht, all ihre Wünsche zu erfüllen? Oder ist es einer, der auf seine Wähler hört, aber seiner Vernunft und seinem Gewissen folgt?
Er nahm als Vorbild den englischen Politiker und Publizisten Edmund Burke, der vor 240 Jahren dies Ideal entwarf: Der Abgeordnete lebe in engster Verbindung zu seinen Wählern und tausche rückhaltlos die Gedanken mit ihnen aus; ihre Wünsche besitzen für ihn ein großes Gewicht und ihre Interesse fordern seine unablässige Aufmerksamkeit. Der gute Politiker löse am Ende Sonderinteressen auf zum Wohl des Ganzen.
Nur – wissen wir heute noch, was das Ganze ist? Das Wohl des Ganzen? Das Gemeinwohl? Verlieren wir uns nicht in einer kaum mehr überschaubaren Menge von Interessen und Gruppen, die sich auf ein Thema konzentrieren?
Also: Wenden wir uns wieder dem Ganzen zu! Reden wir miteinander! Hören wir zu! Haben wir Respekt vor der anderen Meinung! Pochen wir nicht mehr auf das Einmalige der eigenen Meinung! Besinnen wir uns im kommenden Jubiläums-Jahr der Einheit wieder an das, was uns stark gemacht hat!
Es ist übrigens eine Frage des Respekts vor Ihnen, den Lesern, aufzulösen: Wer war der Älteste, der die beeindruckende Rede in Potsdam gehalten hat? Es war ein Abgeordneter der AfD, Alexander Gauland.
Hätten Sie weiter gelesen, wenn Ihnen das zu Beginn des Textes klar gewesen wäre? Mit Respekt vor der Meinung des anderen beginnt der Frieden einer guten Gesellschaft.
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Thüringer Allgemeine 31.12.2014
Wie können wir das Abendland retten? Weihnachts-Leitartikel mit Pegida-Klängen
Sprechen wir also über das Abendland – jenes Land, das auf keiner Karte verzeichnet ist, das aber an jedem Montag von Demonstranten in Dresden gerettet wird. Was ist das Abendland?
Die Wiege des Abendlands stand vor zweitausend Jahren in Bethlehem, einem kleinen Ort im Morgenland. Heute gehört die Stadt, so groß wie das thüringische Arnstadt, zum Palästinensischen Autonomiegebiet; auf Arabisch heißt sie Bait Lahm, in ihr stehen hundert Moscheen und die Geburtskirche Jesu, ein Touristen-Magnet.
In Bethlehem mischen sich die Kulturen des Abendlands und des Morgenlands nicht nur friedlich, erst recht nicht im benachbarten Jerusalem, durch eine acht Meter hohe Mauer und eine Grenz-Kontrolle getrennt von der Geburtsstadt Jesu. Also – was ist das Abendland, das christliche? Was retten die Dresdener in ihrer Stadt, in der nur wenige Christen leben, zumindest dem Steuer-Register nach? Sie wollen offenbar etwas Existenzielles retten; dann aber sollten wir erkunden, was wir retten wollen.
Die Geburt Christi ist die Geburtsstunde des Abendlands, wenn wir darunter keine Himmelsrichtung verstehen – also die Abend-Regionen, in denen die Sonne untergeht -, sondern eine Werte-Gemeinschaft, die über zwei Jahrtausende wuchs, als einzige Institution alle Stürme überstand und die erste Globalisierung schuf, lange vor Google und Coca-Cola.
Der Gründungs-Mythos des Abendlands ist die Geschichte von der Geburt Jesu: Zwei junge Leute kommen in die Heimat der Väter zurück, werden wie Fremde behandelt, sind obdachlos und müssen ihr Kind in ärmlichen Verhältnissen zur Welt bringen. Kaum ist das Kind geboren, beginnt die Verfolgung: Die Familie muss ins Exil nach Ägypten fliehen, weil Herodes, der Mächtige im Land, das Kind töten will. Am Beginn steht die Machtfrage: Herodes vermutet einen Konkurrenten im Kampf um die Königswürde und will den Knaben ermorden.
Das Abendland hat zweitausend Jahre später noch dieselben Probleme: Machtkämpfe, Verfolgung, Flüchtlinge und Millionen Menschen, die machtlos sind und leiden. Wen wollen die Pegida-Demonstranten in Dresden retten? Stehen sie in der Tradition des Herodes? Oder der Bürger von Bethlehem, die ihre Häuser abschlossen und die Fremden aussperrten? Oder in der Tradition der Krippe?
Nun mag mancher Protest der „Patriotischen Europäer“ durchaus berechtigt sein, mag ein Weckruf sein für Politiker – doch die Retter des Abendlands sind die Demonstranten nicht. Mit der Abschottung Europas, erst recht nicht mit der Abschottung Deutschlands, retten wir weder uns noch die Verdammten dieser Erde.
Die Rettung des Abendlands ist aller Mühe wert, also die Rettung unserer Werte, der Menschenrechte und der Demokratie. Schauen wir kurz zurück: Die Geschichte des Abendlands war immer auch eine Geschichte der Verirrungen, der Kriege und der Machtgier – von den Kreuzzügen bis zur Inquisition und Ausbeutung der Armen; im Gegenzug brachte sie auch immer wieder Licht in das Dunkel – Aufklärung eben, die Entdeckung der Menschenwürde und mit der Demokratie die beste Kontrolle von Macht und Arroganz, die es je gegeben hat.
Doch rennt das Abendland wieder in die falsche Richtung: Geld und Gier – zum Beispiel – sind dabei, unsere Werte zu zertrümmern; global herrschende Unternehmen kontrollieren unser Leben; Terroristen bauen im Namen der Religion die Herrschaft des Bösen aus.
„Diese Wirtschaft tötet“, sagt Franziskus in Rom, der Nachfolger des Mannes, der seinen Reichtum als Ballast empfand und nach der Alternative suchte. Franziskus reiste, als er an die Macht kam, zuerst nach Lampedusa, wo die Vertriebenen stranden.
Wie können wir das Abendland retten? Welche Werte müssen wir retten? Wie viele Menschen – und welche – wollen wir retten? Und sind wir bereit, uns selber zu verändern und notfalls zu retten? Wären das nicht sinnvolle Fragen in der Ruhe des Festes und im Licht der Kerzen?
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Thüringer Allgemeine, 24. Dezember 2014
Anna Loos: Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin
Mit 18 bin ich aus der Kirche ausgetreten. Ich glaube nicht an Götter, die von Menschen geschaffen wurden. Aber ich glaube daran, dass es mehr gibt als die Dimensionen, die wir sehen können.
Die Schauspielerin Anna Loos in der SZ 27. September 2014
Warum müssen wir Flüchtlingen helfen?
Jeder Kanarienvogel, der sich in der Dachrinne verfangen hat, wird von Feuerwehr, Polizei, Tierarzt, Hausmeister und Passanten gerettet. Warum gestehen wir das den Syrern nicht zu? Wir müssen anderen Menschen helfen. Warum? Weil wir es können. Wer Banken retten kann, kann auch Menschen retten.
Christian Springer (Jg 1964), Kabarettist in München und Gründer des Vereins „Orienthelfer“, in der SZ 27. September 2014 (Wochenende, „Tod durch Wegsehen“)
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